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WAS ICH ZU SAGEN HABE

Fetisch Digitalisierung 

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-Vom Wert der Erkenntnis-
 

Wir haben, beginnend vielleicht in den 90er Jahren, einen unglaublichen Entwicklungsschub bezüglich der sogenannten „Digitalisierung“ erlebt. Seither wird Digitalisierung als Motor für Entwicklung angesehen, wie ein Fetisch verehrt und zur Lösung fast aller Probleme mindestens befragt.

Ich möchte dafür werben, Digitalisierung als ein hilfreiches Werkzeug anzusehen, aber eben nicht als einen Fetisch zu verehren und ihr keinesfalls alles Menschliche unterzuordnen.

Voranstellen muß ich, dass ich als Techniker täglich viele Stunden mit digitalen Systemen befasst bin, und dass ich die sich bietenden Chancen und genialen Anwendungsmöglichkeiten nicht in Frage stelle. Ich bin kein Maschinenstürmer. Aber ich bin Mensch, und als solcher reflektiere ich mein eigenes Verhalten und das meiner Mitmenschen; und ich bin Vater von vier Kindern.

In meiner Eigenschaft als Mensch und Vater werbe ich dafür, innezuhalten und nachzudenken: Wieviel Digitalisierung brauchen wir wirklich? Wieviel Digitalisierung ist gesund? Wieviel Digitalisierung ist menschlich?

Ein Freund warnte mich dringend vor dem Wort „menschlich“. Es sei häufig gebraucht und noch viel häufiger missbraucht worden. Das ist richtig. Aber muß nicht unsere Aufgabe sein, dass „Menschliche“ täglich neu zu definieren und mit Leben zu erfüllen. Ist das nicht unsere Aufgabe als Individuen und als Gesellschaft?

Ich möchte ein Beispiel sagen:

Als Kind habe ich, um einen Überblick über meine Umgebung zu bekommen, häufig Pläne und Landkarten gezeichnet und dafür Kompass, Lineal und Zirkel verwendet. Noch heute kaufe ich mir von Städten, in denen ich mich aufhalte, oft einen Stadtplan, und wenn ich den eine Weile studiere, dann finde ich mich gut zurecht.

Wenn ich mit dem Navigationsgerät unterwegs bin, kann es geschehen, dass ich dreimal zur gleichen Anschrift fahre. Probiere ich dies beim vierten Mal ohne das Gerät, scheitere ich. Hirnforscher können uns ziemlich genau erklären, was da im Kopf passiert. Doch die biochemischen Vorgänge im Hirn sind nicht mein Thema. Meine simple Erklärung ist, dass uns die digitalen Systeme zu einem hohen Grad an Bequemlichkeit verleiten, uns aber damit um den „Wert der Erkenntnis“ ärmer machen. Da ich mich also nicht anstrengen musste, den richtigen Weg zu finden, weigert sich mein Hirn, sich diesen zu merken.

Was aber bedeutet dies letzten Endes?

Wir lagern menschliche Kompetenzen an das Digitale aus und lassen sie bei uns selbst verkümmern. Wenn die digitalen Systeme dann nicht einwandfrei funktionieren, sind wir hilflos.

Ein anderes Beispiel aus persönlichem Erleben:

Wenn ich als Schüler zu einem Thema Informationen gesucht habe, war ich gezwungen, den elterlichen Bücherschrank nach Literatur zu durchforsten, Zeitungen und Zeitschriften zu wälzen, mich in der Bibliothek mit Fachliteratur auszustatten oder jemanden zu finden, der sich mit dem Thema gut auskannte. All dies waren zeitraubende und durchaus anstrengende Tätigkeiten, Forschung gewissermaßen, die mich innerlich mit dem Thema so gut verbunden haben, dass ich bis heute noch darüber Bescheid weiß.

Im Zeitalter der Digitalisierung ist eine Fülle von Information immer genau einen Klick entfernt. Ihre Beschaffung ist ohne jegliche Anstrengung in Windeseile möglich. Statt über ein Problem nachzudenken, „googlen“ wir nach der Lösung. Werden wir dadurch klüger? Meine Beobachtung ist, dass solcherart beschaffte Informationen für das Hirn oft wertlos sind und von diesem schnell wieder vergessen werden. Auch hier bitte ich die Hirnforscher, mir zu erklären, warum das so ist. Es scheint jedenfalls, dass eine Erkenntnis, um die ich nicht gerungen habe, für das Hirn wertlos ist und nur im Kurzzeitspeicher abgelegt wird. Die Information ist nicht „gelernt“ und nicht für später verfügbar.

Wollen wir das wirklich? Wir wissen, dass das menschliche Hirn Computern in vielen Punkten überlegen ist, aber wir opfern diesen menschliche Kernkompetenzen, denn wenn Kompetenzen nicht trainiert werden, verkümmern sie. Damit machen wir uns abhängig von Maschinen und von denen, die sie bauen und programmieren.

Warum müssen sich denn meine Kinder für eine Schulaufgabe mit Tieren in anderen Erdteilen beschäftigen, zu denen im elterlichen Bücherschrank garantiert kein Buch zu finden ist? Und warum ist der Auftrag der Lehrer sehr häufig: „Recherchiert das mal im Internet!“ Geht es denn nicht darum, sich ein nützliches Wissen anzueignen, das zu einem späteren Zeitpunkt wieder abrufbar ist und uns dabei hilft, Probleme selbstbestimmt zu lösen? Oder geht es nur noch darum, zu wissen, wie ich dem Computer die richtigen Fragen stelle? Ich habe das tatsächlich erlebt: „Hey Siri! Sage mir die Zahlen der 7er-Reihe!“

Kann ich denn überhaupt noch auf mein eigenes Urteil vertrauen? Blicke ich morgens aus dem Fenster, um zu sehen, wie das Wetter ist? Oder frage ich den Computer, was ich anziehen soll? Und was ziehe ich an, wenn der Computer kaputt ist?

Kann eine Begegnung in einem Videochat eine echte Begegnung von Mensch zu Mensch wirklich ersetzen? Selbstverständlich sind Videochats ein hervorragendes Arbeitsinstrument, und Informationen lassen sich so, fehlerfreie Funktion vorausgesetzt, ganz ausgezeichnet austauschen. Ich sehe sogar das Stirnrunzeln des Anderen, wenn er nicht ganz mit mir einverstanden ist. Ich sehe das sogar deutlich besser, als am Telefon.... Lasst uns also den Videochat als das ansehen, was er ist: Ein erweitertes Telefon, ein hervorragendes Werkzeug zum Informationsaustausch, eine Krücke, eine Notlösung, wenn es eben nicht anders geht; aber lasst uns dennoch die Großeltern mit den Kindern besuchen fahren. Die Kinder werden dann möglicherweise feststellen, dass die Großeltern „echt 3D“ sind, und das Oma hervorragenden Kuchen bäckt.

Wie ich das wüste Pogo-Getanze meiner Jugend zu lauter Punkmusik bezüglich virologischer- und anderer Gefahren überlebt habe, ist mir aus heutiger Sicht geradezu unerklärlich. Aber ich weiß noch ganz genau, wie wir bei aller Rempelei und allem Alkohol gut aufeinander achtgegeben haben; dass es ein Gefühl der Gemeinschaft, der geteilten und dadurch vervielfachten Lebensfreude gab. Heute versucht man, dieses sehr wohl dreidimensionale Treiben zu ersetzen, indem man Konzerte live in die Wohnzimmer der Fans streamt, wo diese dann artig auf dem Sofa sitzend nur noch eines tun: konsumieren.

Was mit unseren Augen geschieht, wenn wir ständig auf diese Displays starren, müssen uns Augenärzte erklären, und was mit unserem Bewegungsapparat passiert, wenn wir uns viel zu wenig bewegen, die Orthopäden.

Digitalisierung kann ein Abbild der Wirklichkeit schaffen, aber Digitalisierung kann keine Wirklichkeit sein.

Lasst uns innehalten und darüber nachdenken, wieviel Wirklichkeit und wieviel Abbild der Wirklichkeit wir für ein gutes, gesundes und selbstbestimmtes Leben brauchen.

Matti Rabold 28.05.2021
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